Populäre Irrtümer zu Rechtschreibung und Aussprache des Deutschen
(Zuerst veröffentlicht am 10.01.2007 in meinem (länger nicht aktualisierten) Orthografie-Blog unter Orthografiebezogene populäre Irrtümer. Vgl. auch dort.)
Sie finden sich leider auch in vielen Rechtschreiblehrbüchern, Rechtschreiblernhilfen und Rechtschreibübungsmaterialien, völlig unabhängig davon, ob sie von namhaften Verlagen oder renommierten Instituten herausgegeben sind oder nicht. Selbst in der wissenschaftlichen linguistischen und rechtschreibdidaktischen Literatur halten sich einige von ihnen hartnäckig.
Man muss wohl sagen: Kein anderes Wissensgebiet, das in der Schule gelehrt wird, ist so mit Halbwissen und Irrtümern gespickt, und von keinem anderen Wissensgebiet gibt es so wenig Allgemeinwissen (Allgemeinbildung), wie es in Bezug auf die sprachlichen Zusammenhänge im Bereich Schreibung und Lautung der Fall ist.
Die hier aufgeführten Irrtümer sind daher auch eine Grundlage des GrafemoTschecks.
„Es gibt 5 Vokale.“
Wenn sich diese Aussage tatsächlich auf "Vokale" (Selbstlaute) im wörtlichen Sinne bezieht, also auf die gesprochenen Laute, dann ist diese Aussage in jedem Fall falsch. Natürlich gibt es rein fonetisch eine Unzahl verschiedenster vokalischer Klänge. Und in jeder Sprache herrschen andere Vokallaute vor.
Beziehen wir die Aussage aufs Deutsche: Auch da macht die Aussage überhaupt erst Sinn, wenn man nicht unspezifisch "Laute" meint, sondern "Lauttypen/-klassen" - also die Foneme, die als kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten einer Sprache definiert werden.
Vokalische Lauttypen, die Bedeutungen von Wörtern unterscheiden können, gibt es im Deutschen aber mindestens 14. Aber auch wenn man die Unterscheidung zwischen langen/geschlossenen und kurzen/offenen Vokalen mit der Silbenstruktur begründet, bleiben auf alle Fälle mindestens 7 Vokaltypen bestehen (/aeiouöü/, und sinnvollerweise auch der Schwa-Laut; ggf. auch das lange/äh/, aber auch verschiedene entlehnte Vokalfoneme, die hochsprachliche anerkannt sind, wie das lange offene o, oder die Nasalvokale wie in
orange).
- noch auszuführen -
„ss ist die Verdopplung von s.“
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Dass ss die "Verdopplung" von s ist, stimmt natürlich in einem rein grafematisch-grafetischen (also auf die Buchstabenform bezogenen) Sinne. Doch hinter der populären Ausdrucksweise von der "Konsonantenverdopplung" steckt in der Regel die Vorstellung von einer fonografischen Funktion: der Konsonant wird doppelt dargestellt, wenn er (abhängig von der Silbenstruktur) in bestimmter Beziehung zum vorhergehenden Vokal steht. Gleichzeitig geht es auch um grafematisch-morphologische Zusammenhänge: In verwandten Verbformen z.B. kann es zu einem Wechsel doppelt und einfach dargestellter Konsonanten kommen, vgl. treffen - trafen, reiten - ritten.
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Für die erste Funktion gilt beim ß-Laut: er wird, wenn er eine neue Silbe eröffnet, in der Regel durch ß dargestellt wird, und nur im Falle der "Verdopplungs-"Position (nach kurzem/offnem Vokal am Silbengelenk, d.h. mit festem Anschluss) durch ss.
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Eine weitere hinreichende (aber nicht notwendige) Bedingung für die Zusammengehörigkeit von bestimmten einfachen und zweimal dargestellten Konsonanten ist das Vorkommen der Paare in Paradigmen. Und siehe da: auch da ist ß/ss und nicht s/ss der Normalfall, vgl. tritt - treten, backen - buken, treffen - trafen, essen - aßen, schlossen - schließen, rissen - reißen usw. Als Ausnahmen zu werten sind dagegen z.B. das s in Endungen (-nis - -nisse), weil hier die Sonderregel gilt, dass der ß-Laut trotz verlängerter Form im Silbenauslaut mit s wiedergegeben wird.
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Beides spricht also dafür, ss "die Verdopplung" von ß zu nennen, wenn man überhaupt diese ungenaue Formulierung wählen will. Vgl. dazu auch den Osnabrücker Linguisten Utz Maas, wenn er schreibt: "Die Standardrepräsentation von [s] ist [...] das historisch neue Zeichen <ß> [...]." Und weiter unten: "Die 'erwartbare' Schreibung von [s] nach Kurzvokal (also bei Schärfung) wäre hier <ßß>, das aber offensichtlich aus ästhetischen Gründen [...] vermieden wird und durch das [...] phonographisch nicht benötigte <ss> ersetzt wird [nicht benötigt, da stimmhaftes s nicht nach Kurzvokalen vorkommt, M.B.]. Im Grunde handelt es sich also um eine ästhetische Zusatzregel wie bei dem Ersatz von <kk> durch <ck> oder *<zz> durch <tz>." (Utz Maas, Grundzüge der deutschen Orthographie, Tübingen: Niemeyer 1992, S.311f.)
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Bleibt noch hinzuzufügen, dass ss nicht nur aus "ästhetischen" Gründen statt ßß geschrieben wird, sondern dass sich diese Schreibung ganz folgerichtig aus den Regeln ergibt, die bestimmen, wann s und nicht ß geschrieben wird: nämlich immer (in nicht hergeleiteten Formen), wenn ein stimmlos zu lesender Konsonantenbuchstabe vorausgeht oder folgt. Also sp statt *ßp und bs statt *bß - daher auch ss statt ßß.
„Majonäse ist eine Erfindung der Reform“
- im aufbau -
In der Presse wurden im Zuge der Diskussion um die Rechtschreibreform oft gerne möglichst aufsehenerregende Beispiele für die neu eingeführten Schreibungen vorgestellt. Ein oft zitiertes Beispiel ist die angebliche Neuschreibung Majonäse. Doch Majonäse war schon vor der Reform eine erlaubte Schreibvariante für Mayonnaise! Und zwar schon ziemlich lange. Im Duden von 1929 (10. Aufl.) findet sie sich noch nicht, jedoch bereits in der 12. Auflage von 1941 wird sie als bekannt vorausgesetzt und genannt. Daß sie keineswegs Erfindung des Dudens war, zeigt sich daran, daß sie in dieser Ausgabe unter dem damaligen sprach-"pflegerischen" Aspekt in Winkel eingeschlossen war. Diese "schließen Schreibungen und Ausdrücke ein, die, obwohl sie gelegentlich gebraucht werden, zu vermeiden sind oder als entbehrlich gekennzeichnet werden sollen" (S.12*). In den folgenden Ausgaben wurde die Schreibung, soweit ich sehe, immer genannt – bis zur letzten Dudenausgabe vor der Reform.
Dies ist ein schönes Beispiel dafür, mit was für einem Halbwissen und mit was für einer Blauäugigkeit, Aussagen über sprachliche Gegebenheiten weitervermittelt werden. Auch Leute und Institutionen, denen man unterstellt, sie kennten sich mit der deutschen Sprache aus, sitzen solchen Irrtümern auf und verbreiten sie unbesehen. Vgl. z.B. Bastian Sick im Zwiebelfisch vom 2. März 2006 ("Die reformierte Reform") zu den Veränderungen durch die Reform: "Dass man Mayonnaise jetzt auch Majonäse schreiben kann [...]".